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Radreise-Kritik – Warum Radtouren das absolut Grösste sind, und was mich an aktuellen Trends stört

Meine erste „richtige“ Radtour habe ich relativ spät, im Sommer 1998, gemacht, da war ich bereits 27. Davor bin ich eigentlich nie groß Rad gefahren und eigentlich auch nur weil ich musste als ich noch kein Auto hatte bzw. Bus und Bahn zu teuer oder unpraktisch waren. Wo ist auch der Sinn morgens zur Frühschicht in der Kälte an der Bushaltestelle zu stehen und für die 4 km Arbeitsweg länger zu brauchen wie wenn man gemütlich mit dem Rad fährt – und dafür auch noch zu bezahlen?

Inspiration für diese Radreise war damals „Lust auf ein episches Abenteuer“, oder auch Sehnsucht nach dem Unbekannten, Unplanbaren, nach morgens aufstehen und nicht wissen wo oder bei wem man abends schlafen würde.

Andererseits aber reizte mich auch die persönliche Herausforderung ein hohes Ziel zu erreichen, nämlich das Nordkap in Norwegen, 4000 km entfernt. Das war vor allem deshalb ein hohes persönliches Ziel für mich, da ich mich eher als unsportlich empfand (was auch immer „Sportlichkeit“ bedeutet). Außerdem herrschte damals ohnehin allgemein der Konsens der göttlichen Bestimmung“ vor, d.h. man müsse zum Sportler geboren sein, oder zumindest von Kinderbeinen an auf ein sportliches Ziel hinarbeiten, um ein Sportler zu sein.

Interessanterweise wurde mir danach natürlich von jedem meiner Zweifeler Sportlichkeit attestiert („du bist ja sportlich, ich könnte das nicht, denn ich bin ja nicht so sportlich wie du …“). Tja, so ändern sich die Dinge, und so sind die Leute!

In der Zwischenzeit hat sich viel geändert, es gibt das Internet und hier vor allem Social Media wo sowieso jeder das sein kann was er/sie will.

Auf jeden Fall wollte ich es aber allein machen um komplett frei in meinen Entscheidungen zu sein.

Reisen mit Tiefgang

Ich bin der Meinung, dass viele Leute heutzutage den Sinn des Reisens nicht erfassen bzw. erfasst haben. Sinngemäß erinnere ich mich an die Aussage über den modernen Globetrotter, der

entfremdet hin- und her transportiert wird wie ein Paket im Transit

in dem Buch Wanderlust von Rebecca Solnit.

Leute reisen heutzutage aus allen möglichen Gründen – um Länder und Orte zu „sammeln“, für Party und Entertainment, um DEHEIM Bilder zeigen zu können, um sich auf Social Media zu profilieren, als eine Art Alternativ-Karriere (Digital Nomad Blogger) und was weiß ich noch alles.

Viele prostituieren sich dafür auch um ein paar Freebees von Sponsoren abzugreifen – wo es doch weniger Aufwand und wahrscheinlich lukrativer wäre die Zeit in einen (Neben-) Job zu investieren und sich die peinliche Anbiederei für ein Buff und ein paar Socken zu sparen. Was sie alle eint: sie reisen nicht wegen den metaphysischen Aspekten, vor allem wenn man nicht allein reist, und dazu zähle ich auch die die von einem Backpacker-Spot zum nächsten reisen.

Natürlich habe ich nicht die alleinige Deutungshoheit oder gar das Recht irgend jemandem vorzuschreiben was die angemessene Form ist etwas zu tun. Will ich auch gar nicht. Aber ich kann und werde meine Meinung äußern, vor allem wenn ich der Meinung bin, dass Kritik nötig ist.

Mir recht schnell klar, dass meine Reisen (und nicht nur die mit dem Rad) in ihrer Essenz SPIRTUELLE REISEN waren, GERADE WEIL ich sie alleine unternahm, und GERADE WEIL sie nicht vollständig durchgeplant und somit offen für „unvorhergesehene Erlebnisse“ waren.

Beispiel?

Ich treffe in Stockholm einen „Ossi“, Teilnehmer am Stockholm Marathon. Abgesehen davon, dass er den ersten Marathon seines Lebens deutlich unter 3 Stunden läuft und wir uns blendet verstanden, interessiert er sich auch für „Abenteuer“ und öffnet mir durch diverse Buchtipps und Erzählungen völlig neue Perspektiven.

So erzählte er mir von Fritjof Nansens Nordpol-Expedition „In Nacht und Eis“ – ich glaube kaum einer kann sich wirklich vorstellen was es damals bedeutete auf solch eine Expedition zu gehen. Extreme Entbehrungen ohne zu wissen ob man je wieder nach Hause kommt.

Oder Alexandra David-Néels Reise „Durch Himmel und Höllen“ – verkleidet als Bettelmönch mit einem adoptierten tibetischen Lama an ihrer Seite reisten sie zu Fuss durch das damals wie heute extrem schwierig zu bereisende Tibet um die für Westler bei Todesstrafe verbotene sagenhafte Stadt Lhasa zu erreichen. Ihr Ziel? Ergründen der Geheimlehren des tibetischen Buddhismus.

Oder Sven Hedin „Durch Asiens Wüsten“ und „Transhimalaja„- Pionierleistungen unter Einsatz des eigenen Lebens als große Teile Zentralasiens noch weiße Flecken auf der Landkarte waren.

All das waren auch immer sprituelle Reisen, da sie einem in Retrospektive tiefere Einblicke in die Natur der Dinge und die Welt gewähren, und man, dadurch dass man sich Gefahren aussetzt auch die Angst vor Kranheit und Tod überwindet. Das ist auch der wahre Sinn einer Pilgerreise.

Denn hier geht es primär nicht darum einen bestimmten Ort aufzusuchen, sondern um den Weg dazwischen. Es geht wie gesagt darum durch die Erlebnisse die man unterwegs zwangsläufig haben wird – gute und schlechte – eine höhere geistige Ebene zu erreichen.

Radreise Kritik – die Reise an der Oberfläche

Genauso geht es bei Pilgerreisen eben NICHT darum sich schnell mal in ein Flugzeug zu setzen um einen bestimmten Ort zu besuchen, un dort ein paar Rituale zu zelebrieren. Genauso wie es sinnfrei ist Gebete aufzusagen, die fordern ein guter Mensch zu sein, nur um es im Alltag dann nicht zu leben.

In diesem Sinne habe ich mittlerweile auch kein Verständnis mehr für Leute die entweder NUR Kilometer fressen um der sportlichen Leistung willen, ohne links und rechts zu schauen, oder das Phänomen der „Klickzahl-geilen“ Radler, die so damit beschäftigt sind Content für ihre Follower zu produzieren, dass sie den Sinn der ganzen Sache vergessen.

Das „Radabenteuer“ verkommt dadurch zu einem Projekt mit umgekehrten Vorzeichen, wo die reale Welt zur virtuellen wird, und durch die man sich bewegt ohne mit ihr wirklich verbunden zuu sein, ähnlich eines Spielcharakters in einem Computerspiel.

Was meine ich damit, denn natürlich muss man ein Stück weit mit ihr interagieren? Essen, Tickets kaufen, Hotel Zimmer bezahlen, nach dem Weg fragen – tut man alles, aber man lässt sich eben nicht auf eigenr tieferen Ebene ein. Man „lebt“ es nicht.

Meiner Meinung nach lebt man es schon nicht wenn man allein nur mehrmals wöchentlich per E-Mail oder Messenger mit den Lieben daheim kommuniziert. Denn bereits dann ist man nicht im jetzt und hiersondern im Kopf und emotional daheim.

Und das ist sehr schade. Denn es bringt einen um einzigartige Erlebnisse mit sich – UND der Welt.

Ja und so bin ich gerade auf Youtube über einen „Bikepacking in Kirgistan“-Film von zwei jungen Frauen gestoßen, die sich mit Mitte-Ende 20 selbst noch als „Mädels“ bezeichnen und gefühlt den ganzen Film hindurch kichern.

Was für ein Kontrast zu einer Alexandra-David-Néel, die bereits schon als Minderjährige mehrfach ausbüchste und durch halb Europa wanderte, zu einer Zeit als Frauen aufgrund sozialer Konventionen bei Weitem nicht so frei waren wie heute.

Der Film ist in meinen Augen nur die übliche kultivierte Social Media Langeweile, wie eben viele Bikepacking Filme heute sind: im wesentlichen Ausrüstung vorführen, Kaufhausmusik und Selbstoffenbarung.

Aber ich will auch gar nicht auf diesem Film rumhacken, denn wie gesagt, soll jede/r so machen wie er/sie will.

Mein Punkt ist, dass das Ganze mehr ist als die Summe der Teile, und man zumindest die erste Reise nur für sich allein machen sollte und nicht für irgendein Publikum oder um sich zu (re-) finanzieren.

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